Antwort auf "Der runde Hals" von Herrn Rolf Tillessen[1] - 3. Teil / Fortsetzung - "Hufschlag frei...", 6. Ausg., 1998.
Weitere Stellungnahme zu dem obigen Artikel:
1. Reitlehre von Müseler:
Was ist überhaupt "die Reitlehre"? Hierzu muß ich anmerken, daß - in dem erwähnten Artikel[1] ist richtiger Weise das Wort "Reitlehre" in Anführungszeichen gesetzt - es die Reitlehre (gemeint ist die "Klassische Reitlehre") in Form eines Buches nicht gibt. Nicht Müseler schrieb eine Reitlehre, sondern, die Reitlehre umfaßt die Erkenntnisse von Hunderten, ja sogar Tausenden von Meistern Ihres Faches und deren kritische Auseinandersetzung mit Erkenntnissen und Problemen (fühlende, denkende Reiter und Ausbilder). Angefangen hat es mit den Erkenntnissen, die seit der bzw. durch die Domestikation des Pferdes gesammelt und mündlich, später auch - aber nicht ausschließlich - schriftlich weitergegeben wurden. Die ersten schriftlichen Unterlagen stammen unter anderem von Xenophon (369 v.Chr.) [2]. Weiterhin müssen dringendst z.B. François Robichon de la Guérinière[3], Ludwig Hünersdorf [4], Gustav Steinbrecht[5], Hans von Heydebreck[6], Hans Freiherr von Stackelberg[7] , Alois Podhajsky[8] und Kurt Albrecht [9] aber auch Herbert Rehbein[10] oder Wolfgang Hölzel[11] sowie Charles de Kunffy [12] etc. erwähnt werden.
Ein Buch kann nur subjektiv ausgewählte Teilaspekte der Reitlehre behandeln; auch Erfahrungen können in einem Buch festgehalten oder Tips gegeben werden. Niemals wird die gesamte Reitlehre in einem Buch abgehandelt werden können.
Noch etwas: Das sogenannte "Englische Reiten" [13] gibt es nicht! Wie oben erwähnt, gibt es nur die "Klassische Reitlehre"!!! Selbst das "Westernreiten" hat sich aus der klassischen Reiterei entwickelt, ist und bleibt aber ausschließlich eine Gebrauchsreiterei, die nur dem Nutzen des Menschen dient, aber nicht zum Nutzen des Pferdes sich eignet!!!.
2. Sonstiges:
Zum Verständnis folgender zwei Begriffe:
Rittigkeit / Durchlässigkeit
Sicherlich reicht der mir zur Verfügung stehende Platz nicht aus, beide Begriffe ausführlich zu behandeln. Daher sei hier nur der Versuch unternommen, den Leser zum Nachdenken anzuregen.
Der Begriff "Rittigkeit" besagt, daß es sich dabei um die, durch die korrekte Ausbildung (bis zu einer bestimmten Ausbildungsstufe, egal für welchen Zweck) erworbene Bereitschaft des Pferdes handelt, den Wünschen des Reiters nachzukommen. Der Grad der Rittigkeit, der natürlich unterschiedlich ist (nicht nur unter Materialpferden, sondern selbst bei Grand Prix-Pferden), gibt Auskunft über den Grad der Verwendbarkeit des jeweiligen Pferdes.
Die "Durchlässigkeit" dagegen ist ein zentrales Ziel der Ausbildung. Sie bedeutet, daß die auf die treibende Hilfe hin ausgelöste Kraftentfaltung der Hinterhand (vornehmlich der Hanke) ungehindert bis zum Pferdemaul "durchgeht"; ebenso natürlich auch in umgekehrter Richtung (von Maul über Genick, Hals und Rücken bis zur Hinterhand)[14]. Die Durchlässigkeit ist also der Gehorsam des gymnastizierten Pferdes auf die feinen Hilfen des Reiters - nicht nur das Fehlen eines Widerstands im Genick. Sie setzt ein entsprechend der Ausbildungsskala (Takt, Losgelassenheit, Anlehnung, Schwung, Geraderichtung, Versammlung) weit gefördertes, geradegerichtetes und bei (Los-)Gelassenheit in steter (nicht: fester) Anlehnung schwungvoll gehendes Pferd voraus. Die Versammlung ergibt sich daraus nahezu von selbst.
Übrigens: Viele Widerstände des Pferdes bei der Hilfengebung stammen nicht, wie viel zu häufig angenommen, vom Maul oder Genick, sondern sie kommen aus dem Rücken, oder noch häufiger aus der Hinterhand, und dort besonders aus der Hanke.
Daher ist es in über 98 % der Fälle ein Fehler, Pferde mit Hilfszügeln oder gar mit scharfen Gebissen oder auch gebißloser Zäumung (z.B. Hackamore) zu martern. Es mag nur folgende Anmerkung genügen:
"Der Schlaufzügel in der Hand eines 'Anfängers' [15] ist wie die Rasierklinge (offene Klinge) in der Hand eines Affen!"
Dies gilt nicht nur für Schlaufzügel.
Dr. A. Groos
[1] R. Tillessen, Hufschlag frei..., 3. Ausgabe, 1997.
[2] Xenophon, Über die Reitkunst und Der Reiteroberst, 4. Aufl., P. Parey, Berlin, 1984.
[3] F. R. de la Guérinière, Reitkunst oder gründliche Anweisung, Olms, Hildesheim, 1989.
[4] L. Hünersdorf, Anleitung zu der natürlichsten und leichtesten Art Pferde abzurichten, Olms, Hildesheim, 1992.
[5] G. Steinbrecht, Das Gymnasium des Pferdes:
a) bearbeitet, vervollständigt und herausgegeben von P. Plinzner, fortgeführt v. H. v.
Heydebreck, Verlag Dr. R. Georgi, Aachen, 16. Aufl., 1995.
b) bearbeitet, vervollständigt und herausgegeben von P. Plinzner, 2. Nachdruck der
1. Auflage (1884), Olms,
Hildesheim, 1983.
[6] H. v. Heydebreck, Die deutsche Dressurprüfung, 2. neubearb. Aufl., Verlag Dr. R. Georgi, Aachen, 1972.
[7] H. Freih. v. Stackelberg, Leitlinien für Reiter, Ausbilder und Richter, Verlag H. Rosenberg, Langeln, 1981.
[8] A. Podhajsky (ab 1939 langjähriger Leiter der Spanischen Hofreitschule in Wien), Die Klassische Reitkunst, Nachdruck der Auflage von 1965, Franckh-Kosmos, Stuttgart, 1998.
[9] K. Albrecht (1974 - 1985 Leiter der Spanischen Hofreitschule in Wien), Ausbildungshilfen für Pferd und Reiter, BLV Verlagsges., München, 1990; Reiterwissen, Franckh-Kosmos, Stuttgart, 1996.
[10] H. Rehbein, † 1997.
[11] P. Hölzel, W. Hölzel, M. Plewa, Profitips für Reiter, Franckh-Kosmos, Stuttgart, 1992.
[12] C. de Kunffy, Ethik im Dressursport, Kosmos, Stuttgart, 1997.
[13] beispielsweise: Claudia Philippi, Hufschlag frei..., 5. Ausgabe, 1998.
[14] siehe z.B.: H. Meyer, "Feinschliff", in "reiten und fahren St. Georg", 10/1997, S. 42-44.
[15] Der Begriff 'Anfänger' besagt hier nichts über die zeitliche Dauer der Reiter-Laufbahn aus!!